Weibliche Theatralitäten: Körper und Widerstand in Lateinamerika

von Carlina Derks Bustamante

"Weil wir lebendig sein wollen
Wird uns niemand zum Schweigen bringen,
Hand in Hand in diesem Kampf
Werden wir uns erheben"
Yakutaqui während des indigenen Aufstands von Ecuador 2019

Im Rahmen des Widerstands, den wir gerade in verschiedenen Regionen Lateinamerikas erleben, sind wir Frauen von entscheidender Bedeutung, um die Debatten und Kämpfe zu verstehen, die sich in unsere Körper eingeschrieben haben. Die vielfältigen künstlerischen und kulturellen Strategien, die in Ecuador, Chile, Uruguay, Brasilien, Kolumbien, Venezuela und Haiti in politischen Aktionen auf der Straße, auf Plätzen und in Theatern entwickelt werden, mobilisieren Symbole und erwecken eine weibliche Stimme mit einem Geruch von Erde und Gemeinschaftsgeist zum Leben, die nach wie vor in unseren Herzen wie ein Schmerzensschrei widerhallt, aber auch von Freude, Rebellion und Hoffnung kündet.

Gegen ein "Theater der Repräsentation"

Vielfältige weibliche Theatralitäten berichten uns vom Widerstand und schlagen Brücken zwischen dem Ästhetischen, dem Politischen und dem Ethischen. Und dies im Angesicht einer patriarchalen Gesellschaft, die unseren Körper, unser Land und unsere Gemeinschaft fortwährend übergeht, vergewaltigt, tötet, verschwinden lässt. Unter "Weiblichkeiten" verstehe ich einen Begriff, der über unser Geburtsgeschlecht hinausgeht und über Stereotype, als die die hegemoniale Gesellschaft "Mann" und “Frau" definiert. In diesem Sinne umfasst der Begriff unterschiedliche Widerstandsformen feministischer Bewegungen, also Gruppen indigener Frauen, Studentenbewegungen und LGTBI-Gruppen, die alle dazu beigetragen haben, Weiblichkeit als ein Konzept der Auseinandersetzung, des Kampfes und des Widerstands zu begreifen.

Der von Dramaturg*innen und Wissenschaftler*innen ausgiebig erarbeitete Begriff "Theatralität" beleuchtet die diskursiven und körperlichen Strategien, die verschiedene kulturelle Praktiken jenseits des Theaters prägen (Dieguez: 2014, Rubio: 2001, Dubatti: 2014, Tellas: 2006). Das Konzept ermöglicht die Analyse symbolischer und künstlerischer Diskurse und Praktiken, die wir — nicht zuletzt mithilfe eines neuen Verständnisses von Weiblichkeit — über die Logik des konventionellen Theaters hinaus generiert haben. Dort sind wir gewohnt, von einem Regisseur oder einer Regisseurin, von Schauspielern, Schauspielerinnen, einem festgelegten dramatischen Text zu sprechen; von einem Publikum, das das, was vor Ort passiert, aus der Distanz erlebt, und von einer Inszenierung, die eine starre Struktur darstellt.

Die “weiblichen Theatralitäten“, von denen ich spreche, brechen mit vorher festgelegten Strukturen, die im Allgemeinen mit dem assoziiert werden, was wir als "Theater der Repräsentation" oder "konventionelles Theater" bezeichnen. Sie erzeugen einen Reflexionsraum über verschiedene künstlerische und symbolische Inszenierungsformen, die Straßenproteste, Aktionen im öffentlichen Raum und auch Theateraufführungen hervorgebracht haben. In diesem Sinne möchte ich die vielen künstlerischen und kulturellen Strategien sichtbar machen, die in der Praxis konkrete politische, soziale und kulturelle Funktionen haben und es uns ermöglichen, unsere komplexe aktuelle lateinamerikanische Situation aus der Kunst heraus zu verstehen.

Unsere Themen: Geschlecht, Identität, Erinnerung und Land

Themen wie Körper, Erinnerung, Sexualität und der Kampf um das Land tauchen in den Werken lateinamerikanischer Künstlerinnen immer wieder auf und werden in unterschiedlichen Räumen mit Kraft und Begeisterung szenisch bearbeitet. Unser weiblicher Körper ist nach wie vor ein Schlachtfeld, auf dem wir es sind, die sterben und auf dem auf grausame und unmenschliche Weise um Macht gestritten wird. Die Femizide auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent spiegeln den Zustand der alltäglichen Gewalt wider, die uns bedroht. Der zunehmende und verheerende Bergbau auf unserem Kontinent betrifft die Körper von uns Frauen sowie unsere Gemeinschaften und Umgebungen direkt.

Konferenzen und Festivals thematisieren sowohl das Weibliche als auch den aktuellen lateinamerikanischen Kontext. Künstlerinnen und Darstellerinnen, die aus der Perspektive von Frauen und queeren Menschen mit Gewalterfahrungen arbeiten, leisten einen wichtigen Beitrag, um zu verstehen, was das Verschwindenlassen und die andauernden Femizide für uns bedeuten. Künstlerinnen, die gängige Repräsentationsmodelle infrage stellen und Geschichten in der ersten Person erzählen, ziehen oft “Experten des Alltags” einem Schauspieler oder einer Schauspielerin vor.

Protest EcuadorDas Bild zeigt die politisch-kulturelle Aktion „Resistencia“, die beim Marsch der Frauen im Oktober 2019 während des indigenen Aufstands in Ecuador durchgeführt wurde. Das mit roter Farbe übergossene Denkmal für die spanische Königin Isabella in Quito symbolisiert die Gewalt der Eroberung. © Esteffani Bravo

Wir Gruppen und Kollektive junger Menschen engagieren uns in unseren Arbeiten sozial, politisch und menschlich und thematisieren Geschlecht, Identität, Erinnerung und Land in unkonventionellen Räumen. Das ermöglicht uns den Dialog mit dem Publikum und die Erforschung verschiedener Theatralitäten, um uns durch die Kunst neu zu erfinden. Die feministischen Bewegungen in Chile, Ecuador und Argentinien leisten dabei einen wichtigen symbolischen und politischen Beitrag zu den jüngsten Volks- und Indigenen-Aufständen. Dies sind einige der Beispiele, die sich gerade auf unserem Kontinent zutragen. Es handelt sich um Versuche, die  ihre Wurzeln im Politischen und Kulturellen haben. Sie erneuern Theatralität mithilfe neuer Ästhetiken und indem sie neue Inhalte adressieren.

Analysieren wir den ecuadorianischen Aufstand der indigenen Bevölkerung, den ich kürzlich selbst miterlebt habe und der einen großen Beitrag zum Verständnis innovativer Widerstandstheatralitäten leistet. Die Anwesenheit vieler Frauen während des indigenen Aufstands in Ecuador gegen die Sparmaßnahmen von Präsident Lenin Moreno im Oktober 2019 war eine wichtige politische und symbolische Geste und Teil einer Strategie, um Kämpfe, den interkulturellen Dialog und den Widerstand im ganzen Land aufrechtzuerhalten. Eine bedeutende Aktion dieses Aufstands ergab sich, als die Anführerinnen der indigenen Bewegung Frauen vom Land und aus der Stadt zu einem Protestmarsch aufriefen, die mit Musik, Liedern und Parolen durch Quito liefen, bis sie die Statue der Königin Isabella I. von Kastilien als Sinnbild des Kolonialismus erreichten und sie mit Blut übergossen, während sie ein Bild mit dem Gesicht der verstorbenen indigenen Kämpferin Tránsito Amaguaña hochhielten. Diese Aktion besitzt eine mächtige Theatralität, die uns vom historischen Verteidigungskampf um das Land, unsere Identität und unsere kolonisierten Körper erzählt. Die Beteiligung mehrerer Frauen mit unterschiedlichen Berufen und Identitäten macht diese politische Aktion zu einer Brücke für den interkulturellen Dialog, in dem wir uns alle, unabhängig von unserem ethnischen, sozialen und kulturellen Status, als Töchter der Erde sehen und als Erbinnen derjenigen, die ihr Blut für den Widerstand vergossen haben.

Politisches und kulturelles Handeln wird so zu einem Akt der kollektiven Rebellion, der unsere Individualität und unser künstlerisches Ego übersteigt und den Begriff der Urheberschaft in der Kunst in Frage stellt. In diesem Sinne behaupte ich, dass die Straße, die politischen Proteste und die sozialen Bewegungen der verschiedenen lateinamerikanischen Kontexte für Menschen wie mich weiterhin die erste große Schule sind, in der wir lernen, aus der Kunst, dem Theater, der Performance, dem Tanz, der Musik und der Malerei eine Form des Lebens, des Kampfes und des Widerstandes zu machen. Andere Beispiele nutzen die Kraft, die aus kreativer Arbeit und Forschung auf der Grundlage eines politischen und sozialen Engagements entsteht und zu unserem theatralen Bewusstsein beiträgt. Eine große Hoffnung besteht darin, unsere Theatralitäten kritisch einer Revision zu unterziehen – als schöpferische Frauen, geboren aus einer Jahrtausende alten Widerstandskultur –, um so zu gerechteren und würdevolleren Lebensweisen zu finden, in denen unsere Kunst Anklage sein wird, aber auch ein Schrei der freudigen Rebellion.

Bibliografie:

Meret Kiderlen,  “La teatralidad fuera del teatro. Acerca del ciclo Archivos de  Vivi Tellas”. Telón de fondo, revista de teoría y crítica teatral, consultado en: www.telondefondo.org. Noviembre 2019.
Diéguez Ileana,  “Escenarios liminales, teatralidades, perfromatividades y políticas”. Paso de Gato, México DF,  2014.
Zapata Rubio  Miguel,  "Notas sobre teatro. Editorial Yuyachkani". Editorial Yuyachkani. Lima, 2012.
Dubatti, Jorge, “Teatralidad, teatro, transteatralización: notas sobre teatro argentino actual (y en particular sobre La máquina idiota de Ricardo Bartís)”,  2014.
Santillan, Alejandara, “Protesta del paro que no paró has devolvernos la esperanza”, La Linea de fuego, noviembre 2019.

FotoCarlinaBustamanteCarlina Derks Bustamante ist Schauspielerin, Künstlerin, Anthropologin und Kulturmanagerin. Geboren in Peru, lebt und arbeitet sie heute in Ecuador. In ihren interdisziplinären Projekte verbindet sie Wissenschaft, Musik und Theatralität mit der Erforschung des Körpers, des Widerstands und der Frau in Stadt und Land. Sie ist Gründungsmitglied des Kolllektivs Yama Cultural und des Kollektivs El Maizal.

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