Capitalism kills love
von Anna Landefeld
Heidelberg, 3. Februar 2020. Wie weit geht man für 300.000 Dollar? Die fünf mehr oder weniger erwachsenen fünf Geschwister, die sich hier auf der Terrasse ihres Elternhauses am Meer zusammengefunden haben, kriegen sich darüber ziemlich in die Haare. Der Mensch, den die Frage aber noch betrifft, ist jetzt Asche in der Keksdose: ihr aller Vater, ein strammer Kommunist. Kurz vor seinem Tod rettete er ein Mädchen aus dem Meer. Das Video davon will ausgerechnet Coca Cola kaufen, Inbegriff des global-imperialen Kapitalismus. 300 000 Dollar bieten sie den fünf Geschwistern dafür – und ja, jeder ist hier käuflich, aus was für Motiven auch immer.
Das Wasser steht ihnen bis zum Hals
"Unser aller Vater" von David Desola erzählt die tragisch-komische Geschichte einer Familie, deren Mitglieder sich nichts mehr zu sagen haben und die die Gier zerfrisst. Zugleich aber spiegelt sich in ihr der Wahnsinn gegenwärtiger venezolanischer Zerrissenheit. Denn das Land, einst sozialistischer Musterstaat am karibischen Meer, der nach dem Tod des sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez 2013 in eine Wirtschafts-, dann in eine humanitäre Krise stürzte, macht seinen Einwohnern das Leben etwa mit einer Hyperinflation zur Herausforderung. Wie lebt man da weiter?
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Jedes der fünf Geschwister hat seine eigene Methode. Desola hat sie als politisch-ideologische Stereotype feinst zurechtgedrechselt. Klischees, ja, aber was für unterhaltsame! In der Inszenierung von Regisseur Guillermo Díaz Yuma steht ihnen das Wasser eigentlich bis zum Hals. Anderthalb Stunden rauscht es vor der Sofalandschaft auf der Meeresterrasse, legt sich als dichter Teppich in all seiner sachten Bedrohlichkeit unter das Geblubber der Geschwister.
Geschwisterliebe kennt Grenzen
Ramón schlurft mit fast 40 in Sneakern durchs Leben. Nur seine Zunge ist das Gegenteil von träge. Ein selbsternannter libertärer Anarchist a.k.a. moralapostolischer Maulaufreißer. Er nervt genauso wie seine Zwillingsschwester Luz, eitle Aktrice in einer Telenovela. Wie Luz steht auch Ernesto für Erfolg: ein Zahnarzt, konservativ, den keiner so richtig leiden kann, von dem sich aber fast alle kostenlos die Zähne machen lassen. Ihre Schwester Christina, naiv, manipulierbar, ehrlich, dreht sich in erster Linie hysterisch um ihre vier Gören, will sich aber am Liebsten sofort von deren Vater trennen. Aus dem Rahmen fällt nur Emo-Kid Marti. Die wird als Spross eines späten väterlichen Seitensprungs nicht zur Familie gezählt, aber Bock hat sie da eh nicht drauf.
Sie alle prallen hier zusammen mit ihren politischen und emotionalen Voraussetzungen im moralischen Barrikadenkampf, bis dieser vergnüglichen Verbalschlacht die Lebenslügen aus den Poren schwitzen. Einen Irrsinn, den die Schauspieler*innen des TET aus Caracas – Sara Azocar, Patricia Castillo, Ivan Dalton, Silvie Gouverneur, Richard Mercad – in in best-boulevardesker Manier präzise getimed haben. Da kommt man zackig von der Entscheidung Chinesisch oder McDonalds zu den großen Fragen der Weltpolitik. Zu den menschlichen sowieso immer. Auch selbst Geschwisterliebe hat halt ihre Grenzen. Genauso wie die Stabilität des eigenen Charakter-Rückgrats. Am Ende kippt man Vaters Asche einfach ins Meer. Sein Video kriegt Coca-Cola. Capitalism kills love. Mal wieder.
El padre de todos nosotros (Unser aller Vater)
Text: David Desola, Regie: Guillermo Díaz Yuma, Produktion: Centro de Creacíon Artística TET, Elizar Anka, Licht: José Manuel Rueda, Mauricio Cellimén, David Olaves, Grafik: Lya Bonilla, Werbung: Iván Dalton, Jorge Alfonzo, Sergio Palma, Fotografie: Alejandra Gutiérrez, Amanda Yukency, Sergie Palma, Mitarbeiter*innen: Elizar Anka, Enrique Gonzáles Atay, David Olaves, Sergio Palma, Bella Abou.
Mit: Sara Azocar, Patricia Castillo, Ivan Dalton, Silvie Gouverneur, Richard Mercad.
Dauer: 90 Minuten, keine Pause