Land der Vielfalt

Brasilien gehört zu jenen Ländern, die man lieben muss – und die einem diese Liebe zugleich extrem schwer machen. Seit die Mehrheit der Brasilianer mit Jair Bolsonaro einen Präsidenten gewählt haben, gilt das besonders. Er wirft mit faschistischen Parolen um sich, lässt den Regenwald brennen, versucht, die Kunstfreiheit einzuschränken und wettert gegen alles, was nicht in sein extrem evangelikales Weltbild passt. Zugleich stieg die Mordrate 2017 auf 63.880 Menschen – Opfer sind meist Frauen, Schwarze, Favela-Bewohner*innen, queere Menschen.

Prominentestes Opfer: Marielle Franco, linke Lokalpolitikerin, die alle genannte Gruppen in sich vereinte. Die Spuren des Mordes führen direkt zum Präsidenten.

Aber Brasilien, das flächen- und bevölkerungsmäßig größte Land Südamerikas, besitzt auch ein ganz anderes Gesicht. Seine Kultur repräsentiert eine kaum zu fassende Vielfalt – Ergebnis einer einzigartigen Synthese aus afrikanischen, indigenen und europäischen Einflüssen: der weltberühmte Karneval von Rio de Janeiro, Samba und Bossa Nova, die lässige, hedonistische Strandkultur von Copacabana, allerhöchste Fußballkunst (Pelé!), die Architektur von Oscar Niemeyer und Tom Jobims ewiger Klassiker "The Girl from Ipanema".

Allein die Liste der prägenden Musiker*innen wirkt endlos: Heitor Villa-Lobos, Chiquinha Gonzaga, João Gilberto, Cartola, Caetano Veloso, Gilberto Gil, Chico Buarque und Adriana Calcanhotto haben Meisterwerke geschaffen, die es keine Trennung von E und U kennen – und Interpret*innen wie Miúcha, Maria Bethânia, Marisa Monte und Ney Matorgrosso für ihre Verbreitung gesorgt. Aber auch literarisch ist Brasilien seit Machado de Asis ein Land, mit dem man rechnen muss. Neben Jorge Amado, Cecília Meireles und Clarice Lispector zählt dazu auch der Bestsellerautor Paulo Coelho, dessen Bücher zu den meistverkauften weltweit gehören. Und das Teatro Oficina hat mit seinem grenzsprengenden Sensualismus Brasilien einen festen Platz in der Theatergeschichte gesichert.

Brasiliens Vielfalt bildet dabei die Diversität seiner Bevölkerung und die kulturellen Einflüsse ab, die das Land in seiner langen Geschichte geprägt haben. Denn der 200-Millionen-Einwohner-Staat ist seit Jahrhunderten Zielpunkt verschiedenster, freiwilliger wie erzwungener Migrationsbewegungen. Während die portugiesische Krone schon im 16. Jahrhundert über drei Millionen afrikanischer Sklaven zur Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen in die brasilianische Kolonie verschleppt hatte und die indigene Bevölkerung auf Gebiete im Amazonasgebiet zurückdrängte, waren es in den folgenden Jahrhunderten vor allem europäische und asiatische Einwanderer, die sich im Land angesiedelt haben. So sind bis heute zum Beispiel über 40 Prozent der brasilianischen Bevölkerung deutscher Herkunft.

Wegen der lange erprobten Multikulturalität gilt Brasilien als ein Staat, in dem Menschen unterschiedlicher Abstammung zumeist friedlich nebeneinander leben. Allerdings ist die brasilianische Gesellschaft in sozialen Fragen vielfach entlang der Hautfarben, Her- und Einkünfte gespalten. Die anhaltenden Konflikte in und um die Favelas, die Armenviertel an den Rändern der Megastädte, sind dabei nur ein Aspekt einer Gesellschaft im Widerspruch, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht.