Heiliges Kind Fidencio, bitte für uns!

von Georg Kasch

Heidelberg, 11. Februar 2024. Wie locker diese Fünf in den Hüften sind! Wie energievoll ihre Arme in die Luft schnellen! Wie sie synchron vor- und zurückwogen zum treibenden Beat! Als seien sie ein Körper, bewegen sie sich durch den Raum mit einer Lässigkeit, die Coolness genannt wird und doch so etwas wie eine tiefere Eleganz und Würde verströmt.

Kein Wunder, dass diese Existenz mit ihrer Videoclipästhetik auf den ersten Blick sexy wirkt. Auf den zweiten öffnen sich Abgründe. Víctor Hernández erzählt in seinem Stück "Ese Boker en el campo del dolor" (Boker im gelobten Land des Leids) vom titelgebenden Kleinganoven, Verbrecher, Drogendealer, wie es sie unzählige gibt im Norden Mexikos in der Region Nuevo León. Sie dealen mit Crack und Crystal, sind selbst Opfer ihrer Sucht und schneller an der Waffe als im Kopfrechnen. Sie kämpfen gegeneinander und stecken fest in der Todeszone zwischen Kartell und Militär, kennen vom Staat nur die Härte und suchen Schutz bei Heilern und Heiligen. Sie schwängern ihre Freundinnen, deren Kinder dazu verdammt sind, selbst kriminell zu werden – oder im Waisenhaus enden (man weiß hier wirklich nicht, was schlimmer ist). Auswege? Gibt es nicht.

Kampf oder Begehren? Beides!

Mit seiner Gruppe La Canavaty inszeniert Hernández diesen Trip auf die dunkle Seite Mexikos als grenzsprengendes, durch und durch sinnliches Theater, eine wilde Geisterbeschwörung, vielleicht auch Geisteraustreibung zwischen Karneval (in seinem ursprünglichen Sinn) und Prozession, harten Dialogen und mitreißenden Tanzszenen, Volkstheater und Volksbühne. Das beginnt schon im Foyer, durch das ein Fabelwesen tanzt mit Wolfsmaske und Stoffstreifen, die um den Körper flattern; daneben eine Gruppe von Pilgern in farbigen Röcken und Kerzen auf dem Kopf.

Sie verirren sich später in den Theaterraum und auf die Bühne, wo ein Altar dem Kind Fidencio geweiht ist, das einst als Heiler berühmt war und nun als (inoffizieller) Heiliger verehrt wird. Hier verwandeln sie sich in junge Menschen von der Straße, schält sich aus der Gruppe stumm ein Paar heraus, bei dessen Gesten man nicht weiß, ob’s sich um Liebe oder Hass, Kampf oder Begehren handelt. Offenbar alles gleichzeitig. Es ist diese Beziehung, die dem Boker am Ende zum Verhängnis wird.

Wie er sich bis dahin durchschlägt, zeichnet Hernández in krasser und zugleich poetischer, rhythmisch gespannter Sprache. Dazu entfacht er immer neue Bilder auf einem Leidensweg, bei dem man nie weiß, ob man lachen oder weinen soll. Der Boker wird zusammengeschlagen und zusammengeschossen, sucht Hilfe bei der queeren Person Rita, halb Hure, halb Heilige, die ihn verrät (aus Liebe). Und über allem leuchtet "Oxxo", das Logo von Mexikos größter Handelskette. Cui bono?

Zwischendrin schiebt Hernández das "Große Nationaltheater" ein, erzählt als Farce von der Geburt des mexikanischen Militärstaats aus der Begegnung von Präsident Elías Calles mit dem heiligen Kind Fidencio. Das ist hinreißend komisch und zieht hellsichtig die Linien bis zum Jahr 2009, als Präsident Felipe Calderón den Krieg gegen den Drogenhandel ausrief und damit statt Sicherheit die Macht des (korrupten) Militärs stärkte.

Ein Thema, das halb Lateinamerika beschäftigt

Ästhetisch ist dieser Abend der überraschendste, bildstärkste, überwältigendste des Festivals: Licht und Nebel erschaffen einen Raum zwischen Popkonzert und Kirche. Die Musik, langsame Cumbia - mal live, mit schlichten Perkussionsinstrumenten und Akkordeon produziert, mal vom Band - geht ins Blut. Mehrfach stürmen die Spielenden in den Zuschauerraum, verteilen Müll, spritzen mit Farbe, lassen (als Heilige!) Konsumgüter verführerisch vor dem Mikrofon knistern. Einmal fährt Samantha Chavira auf einem Dreirad vorüber und zieht eine brennende Puppe hinter sich her. Dann wieder prasseln unzähligen rote Kügelchen vom Himmel. Wir erfahren sogar, wie es im Norden Mexikos riecht, weil die Wolfsmaske es uns mit einem Ventilator vor die Nasen bläst: wie alter Linoleumboden in DDR-Schulen.

Das alles ist – bei kleineren Längen – so überwältigend wie klug, wenn Chavira später die Frauenrollen im Stück kritisiert. Immer denkt der Abend die Ästhetisierung dieses verzweifelten Ganoventums wie der Religiosität mit. Und dann ist dieses Thema wirklich eines, das gerade halb Lateinamerika beschäftigt: In El Salvador und Honduras greift das Militär bei Kleinkriminellen hart durch, ohne Rücksicht auf Verluste und Menschenrechte; andere Länder wollen folgen. Typen wie der Boker, die schon jetzt kaum eine Chance haben auf Überleben oder gar einen Platz in der Gesellschaft, werden dann vermutlich noch schneller verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ese Boker en el campo del dolor (Boker im gelobten Land des Leids)
La Canavaty
Europäische Erstaufführung
Text und Regie: Víctor Hernández / Mit: Samantha Chavira, Jonathan Rodríguez, David Colorado, Abraham Tornero, Ricardo Daniel, Roberto Cázares / Produktion: Santiago Martínez, La Canavaty / Produktionsdesign: Hiram Kat, Malcom Vargas / Ausführender Produzent: Iván Flores / Regieassistenz: May Durán / Produktionsassistenz: Esli Cortez / Technische Assistenz: Rafael Acuña / Stage Manager: Malcolm Vargas / Künstlerisches Design: Hiram Kat, Malcom Vargas / Tondesign: Hiram Kat / Kostümdesign: La Canavaty / Musikalische Partitur, Stimmtraining: Teresa Arias / Beratung Körperarbeit: Miguel Pérez Don Cañalero / Beratung Performance: Javier Serna / Dramaturgische Mitarbeit: Edén Bastida Kullic / Beratung zum sozialen Phänomen "Klein Kolumbien" in Nuevo León: Nicho Colombia / Dramaturgische Mitarbeit: Luis Alberto Rodríguez
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

..