Ich möchte fantastisch sein
von Georg Kasch

Heidelberg, 4. Februar 2024. Plötzlich, da haben sich die drei Frauen schon eine Weile abgerackert auf der Bühne mit autobiografischen Erzählungen, Tänzen, Ritualen, kommt eine Stimme aus dem Off: Ob sie das alles bitte noch mal machen könnten? Aber vielleicht etwas fröhlicher? Vielleicht auch mit Kriegsgeschrei und Stammestänzen? "Das liegt euch doch im Blut!"

Was beginnt wie eine typische Probenszene, erweist sich als Castingsituation voller rassistischer Bemerkungen. Cleo Diára, Isabél Zuaa und Nádia Yracema sind Künstlerinnen, die aus Familien mit Migrationserfahrung stammen. Diára kam als Kind aus Kap Verde, Yracema aus Angola nach Portugal; Zuua besitzt Wurzeln in Guinea-Bissau und Angola. Als Kollektiv nennen sie sich Aurora Negra, schwarze Morgenröte. Für ihren gleichnamigen Erstlings-Abend haben sie neben eigenen auch Perspektiven anderer schwarzer Frauen gesammelt und zu einem fulminanten Abend verwoben.

Im renovierten Europa

Fulminant, weil er von einem Leben als schwarze Künstlerinnen in Europa erzählt, von Migration und Rassismus, aber auch von Stereotypen, Zuschreibungen und Projektionen, ohne wirklich bitter zu werden. Wie an unsichtbaren Fäden (analog zu den sichtbaren, die auf der Bühne ein Netz spannen) führt er das Publikum in immer neue Situationen, die jederzeit kippen können. Einmal tanzen die drei ausgelassen in einem hypnotischen Rhythmus, als feierten sie ein Ritual.

Plötzlich bleibt davon nur noch das erschöpfte Stampfen, während ihre Mütter in einer Aufnahme davon berichten, unter welchen unmenschlichen Umständen sie sich für ihre Kinder abgerackert haben: Aufstehen nachts um 4, wieder zu Hause um 22 Uhr, dazwischen ein Gehetze von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. Wenn man diesen Frauen zuhört, spürt man sofort die Müdigkeit in den Gliedern. Und über allem thront eine Maske aus Draht, die gespenstisch-vieldeutige Schatten wirft.

Entstanden ist "Aurora Negra" für das Lissabonner Nationaltheater Dona Maria II., benannt nach der in Brasilien geborenen portugiesischen Königin, die selbst eine – wenn auch höchst luxuriöse – Migrationserfahrung besaß. Sie wird zur Adressatin dieser Auseinandersetzung. Schön ist es zu erleben, wie die drei Performerinnen über die Hinterbühne stiefeln und von den zwar renovierten, aber dennoch maroden Mauern sprechen: Das funktioniert auch in Heidelberg mit seinem neualten Prachtbau.

Gemeint sind natürlich die bröckelnden Mauern des geistigen Alten Europas mit seinem Weltherrschaftsanspruch, seinem Überlegenheitsgefühl, seinem Kolonialismus. Portugal scheint immer noch stolz darauf zu sein, einst ein Weltreich gegründet zu haben; beeindruckend ist auch deshalb jene an die Bühnenrückwand projizierte Filmszene, in der die drei Performerinnen mit je einem Mann im Schoß drei Pietàs bilden – vor dem berühmten "Denkmal der Entdeckungen" in Lissabon, das letztlich dem Kolonialismus huldigt.

Empowernd, nicht belehrend

Der Abend aber ist keine Abrechnung und auch nur bedingt Anklage. Er mündet in einem empowernden Sog, entreißt die Namen schwarzer Frauen dem Vergessen, erklärt die glückliche schwarze Frau zur Revolution, zeigt dazu Filmbilder eines weiblichen Salons. Und endet dann doch erstaunlich leise, mit Kinderstimmen, die erzählen, was sie einmal werden wollen, Ärztin, Feuerwehrmann, solche Sachen. Bis ein Mädchen sagt: "Ich möchte fantastisch sein."

Von derartigen Überwältigungsmomenten, scharfen Kurven in die Emotionen hinein, ins Lachen, in die Tränen ist "Aurora Negra" reich, diesem Abend, dem nichts Didaktisches anhängt, keine Schwere trotz der dicken Bretter, die er bohrt. Er lässt einen nachdenken, das ja; manchmal schämt man sich auch ein bisschen, wie viele Namen schwarzer Frauen einem jenseits von Rosa Parks und Angela Davis nichts sagen. Vor allem aber macht dieser Abend glücklich. Am Ende gibt’s Jubel, stehende Ovationen, die Leute wollen gar nicht mehr gehen. Mit "Aurora Negra" ist die dritte Ausgabe von ¡Adelante! eröffnet. So stark war der Beginn noch nie.

Aurora Negra
Deutsche Erstaufführung
Von und mit: Cleo Diára, Isabél Zuaa, Nádia Yracema / Bühne: Tony Cassanelli / Kostüme: José Capela, Maria dos Prazeres, Marina Tabuado / Technische Leitung: Roger Madureira / Lichtdesign und Video-Mapping: Felipe Drehmer / Licht- und Tonbetrieb: Júlio Brechó / Originalkomposition und Sounddesign: Carolina Varela, Yaw Tembe / Voice¬Over¬Casting: Inês Vaz / Requisiten und Styling: Eloisa D’Ascensão, Jorge Carvalhal / Dramaturgieassistenz: Sara Graça, Teresa Coutinho / Bewegungsassistenz: Bruno Huca / Recherche-Assistenz: Melánie Petremont / Kreative Unterstützung: Bruno Huca, Inês Vaz / Produktion: Cama A.C / Produktionsleitung: Maria Tsukamoto / Koproduktion: Teatro Nacional D. Maria II, Centro Cultural Vila Flor, O Espaço do Tempo, Teatro Viriat
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

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