Wer spricht?

von Margarita Borja und Georg Kasch

Nach der Corona-Pandemie hatte man schon gezweifelt, ob es je eine dritte ¡Adelante!-Ausgabe geben würde. Nun aber steht die Auswahl fest, die wie schon 2017 und 2020 von den Kurator:innen Ilona Goyeneche und Jürgen Berger (zusammen mit den künstlerischen Leiter:innen Holger Schultze und Lene Grösch) getroffen wurde. Ein Gespräch über Politik und Ästhetik, Identität und Überraschungen beim Sichten.

Ilona, Jürgen, die letzte Ausgabe von Adelante fand 2020 kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie statt. Habt Ihr bei Euren Sichtungen noch Spuren der Pandemie und der Lockdowns gefunden?

Jürgen Berger: Ja, durchaus. In einigen Ländern hat man gemerkt, dass sie jetzt gerade erst wieder anfangen zu spielen. Das war eine gemischte Aufbruchstimmung, die auch mit Angst verbunden war: Wie wird das jetzt? Wie sieht es mit dem Geld aus? Man hat es ja hier immer mit einer freien Szene zu tun, in der politische Entscheidungen eine große Rolle spielen. Als ich zum Beispiel in Brasilien war, noch vor der Wahl, wusste man nicht, ob Bolsonaro oder Lula der nächste Präsident sein und was das kulturpolitisch bedeuten würde. Das resultierte in einer gewissen Verhaltenheit. Aber es gab auch eine große Freude, endlich wieder gemeinsam Theater machen, zeigen und sich überhaupt begegnen zu können.

Ilona Goyeneche: Die Aufgabe, sich jetzt für die Ausgabe 2024 vorzubereiten, fühlt sich ein Stück weit wie ein Neuanfang an – und wir sind das auch bewusst wie einen Neuanfang angegangen. Einerseits haben wir uns ein Jahr mehr Zeit genommen, weil die Theaterszenen teilweise gerade erst wieder angefangen hatten zu arbeiten. Es hat sich auch viel verändert, sowohl in der Szene als auch für die verschiedenen Gruppen. Es gibt weniger Geld, die Herausforderungen sind andere. Diesen Neuanfang haben wir versucht zu begleiten, uns Zeit dafür zu nehmen, um gezielt auf die verschiedenen Länder zu sehen und das mitzudenken und einzubringen in unsere Sichtungen. In einigen Produktionen ist die Pandemie auch inhaltlich präsent, nicht als Hauptthema, aber unterschwellig.

Jürgen Berger: Man merkt das an der Atmosphäre von Inszenierungen oder der Art und Weise, wie performt wird. Man spürt die Verunsicherung, die wir alle erlebt haben während der Pandemie und auch danach. Dass man sich neu konditionieren, neu einlassen muss aufs Theater und das Spielen.

Bleiben wir bei den Krisen. Im deutschsprachigen Raum ist die Klimakrise gerade ein großes Thema auf den Bühnen. In der Auswahl spiegelt sie sich nicht wider. Gibt es in Lateinamerika gerade dringendere Probleme? 

Jürgen Berger: Vermutlich. Wir haben uns insgesamt zwischen 150 und 200 Produktionen angesehen, viele davon als Aufzeichnung, davon haben wir 70 Produktionen für die Endauswahl diskutiert. Ich kann mich nicht erinnern, dass bei den Inszenierungen, die wir nicht einladen konnten, der Klimawandel zentral gewesen wäre.

Ilona Goyeneche: Grundsätzlich ist es ein wichtiges Thema, aber bei der Auswahl dieses Mal spielen andere Themen eine größere Rolle, die dringlicher sind. Vielleicht hat die Klimakrise noch am Ehesten ihre Spuren in “La luna en el Amazonas” aus Kolumbien hinterlassen. Und in “Minga” aus Chile. Aber auch da liegt der Schwerpunkt eher auf Gentrifizierung und wie die Traditionen allmählich zerbröseln und verschwinden.

Einige Länder haben seit 2020 gravierende politische Veränderungen erlebt. Gehen die Inszenierungen darauf ein?

Jürgen Berger: Wenn man sich anguckt, wann da wer genau weggeputscht oder abgewählt wurde, dann sieht man, dass die Theaterleute gar nicht so schnell darauf hätten reagieren können. Einerseits. Andererseits haben sie ihre eigenen Projektideen und Themen, und dann machen sie da auch weiter. Die Situation ist von Land zu Land verschieden. Über Venezuela können wir nicht reden, weil das Land für uns inzwischen eine Blackbox ist. Wir wissen nicht, was da passiert und was das für die Theaterschaffenden bedeutet. In Kuba war ich schockiert, wie sehr sich die Situation im Land innerhalb der paar Jahre, in denen ich das letzte Mal dort war, ökonomisch verschlechtert hat und was das mit den Menschen macht. Sie stehen für Grundnahrungsmittel an und die Theater- und Kulturszene kämpft damit, dass viele das Land verlassen, auch viele Künstler und Künstlerinnen. Das ist ein Aderlass, ein Massenexodus, den wir uns nicht richtig vorstellen können.

Trotzdem findet noch Theater statt? 

Jürgen Berger: Ja, aber es gibt kein Festival und kein Showcase. Als ich da hinkam, hat man extra für mich innerhalb von zehn Tagen Vorstellungen so zusammengestellt, dass ich jeden Abend was sehen konnte. Sie haben das dann fürs Publikum geöffnet, die Vorstellungen waren voll! Die kubanische Produktion “Normalización” ist auch deshalb spannend, weil man den beiden Performern ansieht, welche Wege sie finden müssen, um von der Realität erzählen zu können, ohne Schwierigkeiten zu bekommen. Das wird eine Herausforderung für ein deutsches Publikum werden, die Chiffren, die sie performativ entwickelt haben, zu übersetzen.

Ilona Goyeneche: Ich glaube, dass der Schwerpunkt diesmal insgesamt nicht so auf dem Politischen liegt, sondern auf dem Persönlichen, der Identität. Es geht einerseits um das unterschwellige Unzufriedensein, die Unsicherheit wie bei “Espíritu” aus Chile oder “GUNS” aus Uruguay und Themen, über die endlich geredet werden muss, wie die Gewalt gegen Frauen in “Deja vu” aus Bolivien. Andererseits wird die Identitätsfrage verhandelt, in “Soliloquio” aus Argentinien, “Aurora Negra” aus Portugal, diese ganze Diskriminierung und die koloniale Geschichte, die wir in uns tragen. Auch “Hamlet” aus Peru gehört dazu: Wann verstehe ich mich als der oder die Andere, die Indigene, der Mensch mit Down Syndrom?

Die Themen Massenmigration, Gewalt gegen Frauen, Sicherheit und die eigenen Wurzeln, die in den ausgewählten Produktionen vorkommen, sind auch deshalb die Hauptthemen in Lateinamerika, unabhängig von der politischen Lage, weil viele Menschen die Erfahrung gemacht haben: Egal ob links oder rechts, die Probleme bleiben…

Ilona Goyeneche: Genau. Aber es ist eben auch so, wie Jürgen gesagt hat: Die Veränderungen wurden in der letzten Zeit enorm beschleunigt, da konnten die Künstler:innen noch gar nicht reagieren. Argentinien ist das beste Beispiel. Ich war im März 2023 auf dem FIBA-Festival in Buenos Aires, und nun, nur ein paar Monate später, taucht plötzlich dieser rechte Populist Javier Milei auf, der in den Wahlumfragen führt. Da denkt man nur: Was ist denn hier passiert? In der ganzen Region weiß gerade keiner genau, in welche Richtung es geht und wie man die Veränderungen einordnen soll.

Jürgen Berger: Das ist gar nicht so unähnlich der Situation, in der wir uns in Europa befinden. Ich würde unterstreichen, dass die Menschen in Südamerika gewohnt sind, dass sich häufig was ändert und man nicht gleich reagieren kann, sondern abwarten muss, was das bedeutet. Es hat aber jetzt einen anderen Drall bekommen, weil die damit verbundenen Veränderungen potenzierter sind, als das früher der Fall war. Angesichts dieser multiplen Krisen herrscht in Europa ebenso Ratlosigkeit wie in Lateinamerika. Wir alle können gar nicht so schnell begreifen, wie sich die Welt gerade neu ordnet.

Das ist jetzt die dritte Festivalausgabe, die Ihr kuratiert. Welche zentralen Unterschiede fallen Euch zur europäischen, speziell der deutschsprachigen Theaterszene auf?

Ilona Goyeneche: In der Auswahl sind viele Themen vertreten, die auch in Deutschland und Europa diskutiert werden. Aber das Spannende ist, dass sie aus der ibero- und lateinamerikanischen Sicht geschildert werden, also keine Interpretationen von außen sind. Bei allen Festivalausgaben wiederum gibt es eine Auseinandersetzung zwischen dem, was man sich von Europa aus unter lateinamerikanischem Theater vorstellt und dem, wie die Themen von den Theatermacher:innen aus Lateinamerika umgesetzt werden. Da gibt’s jedes Mal einen gesunden kulturellen Clash. 

Als eines der zentralen Themen habt Ihr die Frage nach der Identität genannt, die sich wie ein roter Faden durchs Programm zu ziehen scheint. Wie genau sieht das aus?

Jürgen Berger: In Lateinamerika und auch in Portugal wird gerade diskutiert, wer überhaupt wen repräsentieren kann. Müssen die Betroffenen ihre eigene Geschichte selbst erzählen können? Darauf sind wir immer wieder gestoßen, etwa bei Tiziano Cruz, der indigene Wurzeln hat, von der Peripherie ins Zentrum gekommen ist und sich da immer wieder neu durchsetzen muss, um anerkannt zu werden und gleichzeitig immer etwas Exotisches hat. Oder auch bei “Aurora Negra”. Diese Performerinnen sind alle mit ihren Familien aus den ehemaligen Kolonien nach Portugal gekommen und reflektieren jetzt diese Migrationsbewegung mit tollen theaterästhetischen Mitteln. Da ist man auch schnell bei der aktuellen Debatte darüber, was mit den aus Afrika flüchtenden Menschen im Mittelmeer geschieht.

Ilone Goyeneche: Sowohl die Performer:innen in “Aurora Negra” als auch Tiziano Cruz sagen: Wir müssen so sein, weil Ihr glaubt, dass wir so sind. Wir müssen uns exotisieren, weil Ihr das von uns so erwartet. Aber wer sind wir eigentlich? Diese Frage findet sich in vielen Produktionen der Auswahl wieder, in “Hamlet” und in „Ese Boker en el campo del dolor“.

Jürgen Berger: Auch in “Historia do olho” aus Brasilien. Da stehen sowohl professionelle Schauspieler:innen als auch Pornodarsteller:innen auf der Bühne. Die Pornodarsteller:innen sagen: Es gibt das Klischee, das Ihr von uns habt. Und wir zeigen Euch jetzt, dass wir auf einem Filmset das machen, was wir auch privat tun. Sie reenacten das, machen aber auch deutlich, dass sie nur so tun als ob. Und das verknüpfen sie mit Batailles “Das obzöne Werk”.

Nach all den Jahren der Reisen durch Lateinamerika – gab es in dieser Sichtungsrunde noch etwas, was Euch wirklich überrascht oder verwundert hat?

Jürgen Berger: Wir waren beide positiv überrascht, dass uns das Theater Heidelberg kurz nach der Aufhebung der Coronabeschränkungen angesprochen und gesagt hat, dass es wieder ein Adelante-Festival geben soll. Ich hätte mit dieser Entschiedenheit und Verlässlichkeit nicht gerechnet.

Ilona Goyeneche: Da kann ich Jürgen nur zustimmen. Und wenn man dann durch die Regionen reist, merkt man, wie unglaublich wichtig so ein Festival ist, das einen ganzen iberoamerikanischen Raum bespielt, ihn sichtbar macht. Auch für die Performer:innen und Theatermacher:innen ist es spannend, hier zusammenzukommen und eine gute Woche lang einander zu begegnen. Die Region ist ja riesig, besteht aus so vielen Ländern, es gibt so viele Unterschiede. Die kann man einerseits sehen, andererseits aber auch die vielen Themen finden, die wir gemeinsam haben.

Und auf den Reisen vor Ort?

Jürgen Berger: Es ist wohltuend, wenn man aus Deutschland kommt und man plötzlich in einem Land ist, in dem Theater nicht in Frage gestellt wird, man es nicht rechtfertigen muss. Und zu sehen, welche schlagenden Ideen die Theatermacher:innen dort haben und wie einfach man auf der Bühne auch sein kann und in dieser Einfachheit überzeugend.

Ilona Goyeneche: Beim Sichten hatte ich die Möglichkeit, zwischen Dezember und Februar Uruguay, Argentinien und Chile zu besuchen und dort auf den Festivals zu erleben, dass wir uns zunehmend als Region begreifen. Wie gewaltig die Theaterszene ist! Dort habe ich auch Produktionen aus Peru und Bolivien erlebt, darunter “Deja vu”, das wir zu ¡Adelante! eingeladen haben. Es thematisiert Gewalt gegen Frauen, die Verschleppung von jungen Mädchen, die Normalisierung der Gewalt in der Gesellschaft. Begonnen hatte “Deja vu” als soziales Projekt. Als das abgeschlossen war, wollten die Frauen unbedingt weitermachen. Nach der Arbeit als Handwerkerin oder Händlerin gehen sie noch auf die Probe, weil ihnen das wichtig ist, es ihren Alltag verändert. Eine der Frauen musste erst mal ihren Mann davon überzeugen, der anfangs noch meinte: Das kann ich meinen Freunden nicht erzählen, da verliere ich den Respekt. Später hat er sie unterstützt. Bei solchen Geschichten merkt man erst, wie durch solche Projekte Dinge entstehen, die man nicht auf der Bühne sieht. Von diesen Beispielen gibt’s viele in der Region. Sie zeigen: Theater in Lateinamerika ist oft viel mehr als das, was auf der Bühne passiert.

Jürgen Berger schrieb und schreibt als freier Theater- und Literaturkritiker für die Süddeutsche Zeitung, Theater heute und die TAZ. Von 2003-2007 und 2012-2021 war er Mitglied im Auswahlgremium des Mülheimer Dramatikerpreises, von 2007-2010 Jurymitglied des Berliner Theatertreffens und 2006-2015 Juror des Else Lasker-Schüler-Stückepreises. Seit 2012 ist er Juror des Osnabrücker Dramatikerpreis. 2015 war er Ko-Curator des Festivals OFFENE WELT in Ludwigshafen. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Theaterszene Lateinamerikas und leitete für das Goethe-Institut zahlreiche Workshops mit internationalen Theaterschaffenden u.a. in Kuba, Mexiko, Chile und Brasilien.

Ilona Goyeneche, chilenische Journalistin, Kulturmanagerin und Kuratorin, arbeitete als Redakteurin bei der chilenischen Tageszeitung EL MERCURIO und ihrer Online-Version. Von 2006 bis 2008 war sie Chefredakteurin der Kulturabteilung von EL MERCURIO ONLINE. Von 2008 bis 2019 war sie für das Goethe-Institut im Bereich Theater und Tanz tätig, zuerst in Chile und dann in Mexiko. Von 2019 bis 2021 leitete sie die Programmkoordination des Kulturzentrums Casa del Lago der Universität UNAM in Mexiko Stadt. 2014 war sie Jurymitglied des mexikanischen nationalen Tanz-und Choreografie-Preises PREMIO NACIONAL DE DANZA GUILLERMO ARRIAGA. Im selben Jahr war sie Scout des Heidelberger Stückemarktes 2015 und kuratierte die Auswahl des Gastlandes Mexiko. Im gleichen Rahmen übernahm sie die Koordination und Redaktion der Spezialausgabe Mexiko von Theater der Zeit. 2016 ko-kuratierte sie das Mexikanische Theaterfestival “Endstation Sehnsucht“ bei den Münchner Kammerspiele. 2018 war sie Jurymitglied des Theaterfestival in Jalisco, Mexiko, und 2019 der Auswahl der nationalen Inszenierungen für das Festival Internacional de Artes Escénicas FIDAE in Uruguay. Von 2019 bis 2021 übernahm sie die Produktionsleitung der Koproduktion dem Schauspiel Stuttgart und Teatro UNAM in Mexiko und 2023 die Produktionsleitung des Gastspiel DER WILDE vom Schauspiel Köln in Mexiko. Aktuell entwickelt sie gemeinsam mit der Nationalen Theaterkoordination aus Mexiko ein Programm zur Förderung der Internationalisierung der Mexikanischen Theaterszene. Seit 2017 ist sie Kuratorin des Iberoamerikanischen Theaterfestivals ¡ADELANTE!

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