Iberoamerika? 

von Romina Muñoz Procel

"Das Theater erscheint mir wie Brot, weil es so sehr in Allem, auch im Alltäglichen enthalten ist, eine Art Mittel, das in allen Zeiten und Kulturen vorhanden war und ist; ich stelle mir Theater als Licht vor, als eine Sehnsucht danach, all das zu erhellen, was wir nicht verstehen oder was wir nicht mögen; und ich denke mir das Theater als Schmerz, wegen der ständig scheiternden Aushandlunsgprozesse zwischen Brot und Licht."
María Folguera 

Denkt man an Iberoamerika, ruft das eine Reihe von bruchstückhaften Bildern hervor. Da sind höchst unterschiedliche Landschaften, begrenzt vom eisigen Atlantik und dem warmen Pazifik, in denen die Menschen von einem Ort zum anderen wandern, was an Bilder erzwungener Migration erinnert. Da erscheinen wie in einer Fotomontage verkrampfte Aushandlungsprozesse zwischen Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Interessen, Erben der komplexen Kolonialisierungsgeschichte Lateinamerikas. Da kreuzen sich die Wege verschiedener Gemeinschaften, die durch ihre Kleidung und Traditionen die Verbindung zu ihren Vorfahren aufrechterhalten. Lauter ineinander verflochtene Situationen, in denen die Symbole und Bilder nicht zusammenzupassen scheinen.

Jeder Versuch, diese Flut von Bildern auf einen Nenner zu bringen, wirkt unvollständig. Iberoamerika scheint einerseits eine gemeinsame kulturelle Identität zu behaupten und sich andererseits immer auf der Suche nach ihr zu befinden. Iberoamerika wirkt, als befände es sich in ewiger Ausdehnung, zugleich wie eine Kraft, die sich der Aufteilung in Zentren und Peripherien widersetzt und die Richtung des kulturellen Austauschs allmählich verändert – weg vom alten Europa. 

Man könnte sich Iberoamerika als die Verwirrung eines Spaniers vorstellen, der sein Glück in einer Stadt der "Neuen Welt" sucht. Bei sengender Hitze nimmt er sich in einem Hotel am Ufer eines großen Flusses ein Zimmer und verlässt es in Badehose, mit Badelatschen und einem Handtuch über der Schulter, um ins Wasser zu springen. Iberoamerika wäre dann das Erstaunen und das Lachen der Hotelangestellten. In dieser heißen Stadt, in der einem die Schwüle den Atem raubt und der Schweiß auf die Bürgersteige tropft, tragen die Menschen Anzüge, trinken heiße Suppe und niemand käme auf die verrückte Idee, im vermeintlich stillen Fluss zu baden.

Iberoamerika kann das Gefühl der Fremdheit sein, wenn man mit der Familie in einer Andenstadt essen geht und die Teenager-Töchter überrascht, lachend und erschrocken auf "chocho con cuero" (in den Anden: Bergbohnen und Speckgrieben, woanders: Fotze) und "cevichochos" (in denen Anden: Bergbohnensalat, woanders: Fotzensalat) hinweisen. Und das am helllichten Tag!

Iberoamerika ist, eine der fünfhundertsiebzig heiße Suppen zu essen, die ein tropisches Land als Teil seines gastronomischen Erbes begreift, während einem die sengende Sonne auf der Haut brennt.

Iberoamerika ist, nach der Uhrzeit zu fragen und angeschrien zu werden: "Mädchen, kauf dir eine Uhr!“ Man begegnet bei uns einer Freundlichkeit, wie man sie noch nie erlebt hat oder einem harschen “Was ist dein pindilú (Problem)?”

Iberoamerika ist, sich immer wieder darüber zu wundern, dass das Klima einer Stadt an einem einzigen Tag zwischen ermüdender Hitze, stürmischem Regen und Kälte wechseln kann. Dass alle Jahreszeiten an einem einzigen Ort, unter demselben Himmel existieren.

Iberoamerika könnte auch der Streit sein über die genaue Herkunft des Tangos, der Empanadas, der Alfajores und der Schokolade. Oder der Wettbewerb um die beste Ceviche, den besten Wein, die köstlichste Zubereitung von Schweinekeule, die leckerste Cajeta oder Dulce de Leche. Iberoamerika könnte der Geruch von Kaffee, Atole, Pão de Queijo, kochender Mais-Tamales in allen Variationen sein, Pupusas und Arepas, Mofongo oder Bolones in den erdenklichen Kombinationen, Fritanga, Fabada, Arroz Congrí, Croquetas, Birria-Tacos, frisch gemachte Tostones oder Bolinho de Bacalhau. Vielleicht ist Iberoamerika das Frühstück so groß wie ein Mittagessen, oder der Kellner, der einen dazu zwingt, die Galinha de Cabidela bis zum letzten Bissen zu essen. Vielleicht ist Iberoamerika auch die Mutter, die beim Essen nicht locker lässt, bis man sich völlig überfressen fühlt und die Töpfe leer sind.

Vielleicht ist Iberoamerika unsere Faszination für die Sprache in ihrer Unvollkommenheit und Veränderbarkeit. Die Übernahme von Wörtern wie "xocolatl" (Schokolade), "tlalkakawatl" (Erdnuss), "ahuacatl" (Avocado), "chilli" (Chili). Vielleicht ist Iberoamerika auch, das Spielgerät Wippe Gingiringongo zu nennen – man wächst auf, ohne es aussprechen zu können. Vielleicht ist Iberoamerika auch die ewige Saudade (Sehnsucht).

Vielleicht ist Iberoamerika aber auch "jalar/hacer/tirar dedo" (trampen), um ans Ziel zu kommen. Nirgendwo ankommen, "nortearse" (die Orientierung verlieren). Es geht darum, die richtige Übersetzung von "coger" (je nach Land nehmen oder vögeln) oder "agarrar" (je nach Land greifen oder fummeln) zu finden, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten; nicht "la polla" (je nach Land Schwanz, Huhn, Wettschein) mit "la chuleta" (je nach Land Kotelett oder Ohrfeige) zu verwechseln; erst recht nicht heute, inmitten der Ära der “escrache” (Erregungsgesellschaft, cancel culture). Iberoamerika ist, sich mit absoluter Freiheit lokal sehr unterschiedliche Begriffe aus den indigenen Sprachen und der Umgangssprache zu bedienen: "ñañear" (sich verschwestern, aus dem Quechua: ñaña, die Schwester), “al pululu” (alles läuft prima), “estar juquiao” (im Rausch) zu sein, “tár pisao” (down zu sein), “ser más rollo que película” (mehr Schein als Sein, ein Hochstapler sein). “¡Chica, niña, seño, ño!” (Mädchen, Frau) sind nur einige von unendlichen Möglichkeiten, das gleiche zu sagen. Iberoamerika ist wie eine “chichigua”, “chiringa”, “papelote”, “barrilete”, “lechuza” oder “cometa” (Drachen, Kite) zu fliegen.

Iberoamerika kann der Wunsch sein, die Wahrnehmung mit einer "eigenen" Farbpalette zu erneuern: mexikanisches Rosa, Muschi-Rosa, Frida-Blau, Küken-Gelb, Kanariengelb, Apfelgrün... Ganz zu schweigen von Musik und Tanz. Iberoamerika ist Zamba, Bolero, Salsa, Merengue, Tango, Milonga, Guaracha, Cumbia Rebajada, Tex Mex, Vallenato, Porro, Candomblé, Flamenco, Serranera, Reggaetón... Iberoamerika ist das Musizieren mit einer Holzkiste, mit einer mit Wasser gefüllten Tonflasche, mit einer getrockneten, mit Samen gefüllten Schote, mit einem Orangenblatt.

Iberoamerika ist die Murga.

Theater in Iberoamerika zu machen, diesem so unförmigen wie überquellenden Raum, bedeutet, einen Weg zu beschreiten, auf dem die Schatten und das Chaos lauern.

Theater in Iberoamerika zu machen bedeutet, hungrig zu sein.

Theater in Iberoamerika zu machen ist, wie María Folguera schrieb: Brot und Licht.

Theater in Iberoamerika bedeutet, Archetypen zu hinterfragen: die gute Mutter, den Galan, den allmächtigen Vater, den Lügner, den Despoten, den Diktator… Es geht darum, den Vorbildern, die wir aufgebaut haben, in die Augen zu sehen: Wann lassen wir sie gehen? Vielleicht verschwinden sie von selbst.

Theater in Iberoamerika ist wild.

Theater in Iberoamerika ist der Ort, an dem sich alles abspielt. Oder wie meine Freunde von der Gruppe Muégano Teatro behaupten: Es ist ein ernsthaftes Spiel mit der Freiheit.

Was könnte wohl iberoamerikanischer sein als eine Theatergruppe, die von einer Mexikanerin und einem Guayaquilaner in Spanien gegründet wurde, oder eine, die ein Argentinier und eine Spanierin in Ecuador leiten?

Theater in Iberoamerika ist Entwurzelung und dagegen anzukämpfen.

Theater in Iberoamerika zu machen bedeutet auszuwandern. Zu allen Orten und zu keinem zu gehören.

Theater in Iberoamerika zu machen bedeutet, sich an “muéganos” (Karamellkeksen) zu überfressen, sich zu entschließen, auch mal ungenießbar zu sein. Es bedeutet, kollektiv zu arbeiten und zugleich individuell sichtbar zu bleiben.

Theater in Iberoamerika zu machen bedeutet, die Dinge ernst zu nehmen; es bedeutet, die Fähigkeit zu haben, sich auf engagierte Weise über sich selbst lustig zu machen. Es ist der Kampf gegen die Professionalität auf professionelle Art und Weise.

Theater in Iberoamerika ist Bühnenpräsenz. Es ist, etwas im Publikum zu öffnen, Raum in der Zeit zu schaffen.

Theater in Iberoamerika zu machen ist ein politischer Akt. Es ist eine Form der Rettung.

Theater in Iberoamerika zu machen heißt, die Transformation zu begrüßen, aus der Passivität herauszukommen. Es bedeutet, sich selbst zu erschüttern. Es bedeutet, krank zu werden, um zu heilen. Es ist dringend.

Romina Muñoz Procel
Geboren 1984 in Guayaquil. Dozentin, Wissenschaftlerin und Mitbegründerin von Editorial Festina Lente sowie designierte Kulturminsiterin von Ecuador. Sie ist Mitglied der Stiftung Muégano Teatro und gehört dem Künstlerkollektiv Las Brujas an. Sie war Mitbegründerin der Experimentierbühne MEDIAAGUA, außerdem Mitglied der akademischen Kommission für den Studiengang Bildende Kunst und der Forschungsabteilung des Instituto Superior Tecnológico de Artes del Ecuador (ITAE, 2010-2015). Danach arbeitete sie als Forschungsdirektorin an der UArtes (2015-2016), war Leiterin des Mariano Aguilera Nationalpreises (2017-2018) und Direktorin des Nationalmuseums von Ecuador (2021-2023). Sie besitzt einen Bachelor-Abschluss in Bildender Kunst und einen Master-Abschluss in Archäologie. Derzeit unterrichtet sie Visuelles Denken an der UDLA. Sie hat mehrere kuratorische Forschungsprojekte über moderne Kunst und zeitgenössische künstlerische Praktiken durchgeführt, die meisten davon im Zusammenhang mit ecuadorianischen Frauen und der Bedeutung des Archivs, um die Prozesse künstlerischer Bewertung neu zu überdenken.
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