Glotz nicht so neurotypisch

von Georg Kasch

Heidelberg, 7. Februar 2024. Sein oder Nichtsein? Einmal müht sich Jaime Cruz auf einem kleinen Treppchen ab, das überlebensgroße Vorbild Laurence Olivier hinter sich auf der Leinwand zu kopieren: starrer Blick in die Ferne, merkwürdige Körperhaltung, unterkühlter Klassizismus in der Stimme. Da kommt sein Kollege Álvaro Toledo: Hör auf, andere zu kopieren; mach dein eigenes Ding! Jetzt lotet Cruz den Text dieses vermutlich berühmtesten Monologs der Weltliteratur aus, die anderen stimmen ein, übernehmen einzelne Sätze, schmecken ihnen nach, hören genau hin. Wenn Hamlet die Mühsale des Lebens aufzählt, heißt es hier: Beleidigungen, Liebeskummer, unsere fehlenden Rechte… Und schon denkt man an die rechtlich oft schwierige, weil erniedrigende Lage von Menschen mit Behinderung, haben die Spieler:innen sich diesen Text anverwandelt, ins Heute geholt.

Brauchen wir die Klassiker noch, den Kanon? Die Frage geistert gerade vermehrt durch deutschsprachige Theaterdebatten. Das Teatro La Plaza zeigt mit seinem "Hamlet", wie ungemein fruchtbar die Auseinandersetzung mit einem scheinbar so ausinterpretierten Spielplanliebling sein kann. Acht Schauspieler:innen mit Trisomie 21 greifen sich die Schlüsselszenen heraus und probieren sie an wie Kleidungsstücke. Sie sitzen perfekt.

Selbstironisch stellen sie sich vor, weisen auf ihre Besonderheiten beim Spiel hin, auf ein Stottern hier, eine langsame Aussprache da, beruhigen uns: "Habt Geduld! Entspannt euch!" Gehen darf man auch jederzeit.

Aber auf die Idee kommt niemand, denn dieser "Hamlet" ist ein Theaterfest erster Güte. Das verwundert auch deshalb ein wenig, weil "La Cautiva", mit dem das Teatro La Plaza vor sieben Jahren bei ¡Adelante! zu Gast war, ein pathosschwerer Abend über Gewalt war, auf dem eine gewisse Patina lag. Auch jetzt ist Chela de Ferrari wieder für die Inszenierung verantwortlich, sie zaubert große Bilder, die frisch und vollkommen gegenwärtig wirken. Dabei ist die Bühne meist leer, an den Rändern warten Kleiderstange, Tische, Requisiten. Aber mit Licht, Video, Projektionen und dem mal herrlich selbstironischen, dann wieder völlig eigentlichen Spiel der acht Performer:innen ergeben sich Szenen, die mal altmeisterliche Schönheit atmen, dann wieder wild wimmeln.

Ein ganz besonderes Mädchen

Beim Versuch, sich diesen Stoff zu eigen zu machen, kippen die großen tragischen Momente in die Komik und zurück, wie es auch "Aurora Negra" zum Auftakt geglückt ist. Wenn etwa Polonius seine Ermahnungen an Ophelia spricht, dann spricht hier nicht nur ein besorgter Vater, sondern ein neurotypischer Erziehungsberechtigter, also ohne Behinderung: "Du bist ein besonderes Mädchen." Oder die "Mausefalle", jene Kernszene der europäischen Theatergeschichte, bei der dem szenischen Vorgang eine konkrete politische Funktion zugewiesen wird: Abbild und Spiegel der Realität zu sein. Vor allem soll sie aber einen Verbrecher überführen, wenn Hamlet seinem Stiefvater dessen Mordtat vorspielen lässt: "Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe."

Hier fährt nun ein bukolischer Hintergrund herunter, die Spieler:innen treten in historisierenden Kostümen auf, es werden aber auch vier Zuschauer:innen gesucht für Statistenjobs: als Bäume, Mond, Gifteinflößer. Mit einem ersten Durchlauf sind die Spieler:innen unzufrieden: "Irgendetwas fehlt!" Bis sie feststellen: Die Statist:innen spielen zu neurotypisch. Also machen sie es ihnen vor: wackeln und schwanken als Bäume, grimassieren wild als Mond, bringen das Gift mit übertriebenen Gesten herbei. Zum Schießen! Und es wird noch ärger, als die Statist:innen genau das nachzuspielen versuchen – ein hochnotkomisches Schmierentheater, bei dem das Publikum schreit vor Lachen; das aber auch etwas erzählt vom Druck auf Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen: Passt euch an!

Was wünschst Du Dir?

Der Abend besticht aber auch durch viel stille, nachdenkliche, zärtliche Momente. Einmal berichten die drei Ophelias, wovon sie träumen: Liebe, Beruf, Kinderkriegen. Nur in der konkreten Schilderung ahnt man, an welche Grenzen diese hier von Raum und Zeit befreiten Fantasien sonst stoßen. Oder gegen Ende, als es ans große Sterben geht. Da hat Lucas Demarchi als Horatio und der Tod seinen großen Auftritt. Während er hinten in der Videoprojektion virtuos mit dem Gymnastikband tanzt, hält er vorne einen bleichen Schädel in die Kamera. Und fragt: Was wünscht Du Dir im Moment vor Deinem Tod? Selbst Fortinbras‘ Worte über der Leiche Hamlets, die hier aus dem Off kommen, hört man plötzlich neu: "Er hätte, wäre er hinaufgelangt, unfehlbar sich bewährt!" Was in diesem Kontext hieße: Lasst uns spielen, lasst uns machen – wir kriegen das schon hin.

Aber auch das wird weggewischt, wenn aus den Boxen "Ich will dein Mitleid nicht" dröhnt und die Spieler:innen ihre Mittelfinger ins Publikum recken. Sie machen hier ihr eigenes Ding, und wir haben das Glück, ihnen dabei zusehen zu dürfen. Am Ende steht aber nicht die Wut über eine Welt, die ihnen nicht den Raum gewährt, der ihnen zusteht. Sondern eine große Party, zu der das Publikum auf die Bühne kommen darf – zu ihren Konditionen.

Hamlet
von Teatro La Plaza
Deutsche Erstaufführung
mit deutschen Übertiteln
Stück und Regie: Chela De Ferrari / Regie­ und Dramaturgieassistenz: Jonathan Oliveros, Claudia Tangoa, Luis Alberto León / Ensemble: Octavio Bernaza,
Jaime Cruz, Lucas Demarchi, Manuel García, Diana Gutierrez, Cristina León Barandiarán, Ximena Rodríguez, Álvaro Toledo / Stimmtraining: Alessandra Rodríguez / Choreografie: Mirella Carbone / Videodesign: Lucho Soldevilla / Licht­ design: Jesús Reyes / Bühnenleiter: Allyson Espinoza / Licht: Andrés Nunton / Ton: Jhosimar Sullon / Video: Kevin Yupanqui / Reiseleitung: Roxana Rodriguez / Pro­ duktion: Teatro La Plaza / Koordination und Unterstützung des Ensembles: Rocío Puelles
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten

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