Was sich schlägt, das liebt sich

von Leonard Haverkamp

Heidelberg, 6. Februar 2024. "Kennen Sie den Peitschentanz?", fragt das kleine Mädchen mit den langen schwarzen Zöpfen, das gerade noch mit ihrer Barbie Mutter-schreit-Kind-an gespielt hat. Gemeinsam mit ihrer Freundin führt sie ihn vor: Die beiden jagen einen Ledergürtel durch die Luft, lassen ihn Pirouetten drehen, als würden sie eine Schlange beschwören – bis eine Frau im weissen Kleid sie mit einer Route von der Bühne jagt.

Eigentlich war es Erika Andias Hauptziel, das Theater aus dem Theater zu holen, als sie die Gruppe Las Kory Warmis gründete, "die Frauen aus Gold" (so der Name in der indigenen Sprache Aymara). Im Alltag sind sie Händlerinnen und Handwerkerinnen, sie spielen auf Fußballplätzen, in Schulen oder Parks. Fünf Monate sollte das Projekt ursprünglich dauern, wie Andia vor Beginn des "Déjà vu"-Gastspiels im Alten Saal erzählt. Neun Jahre und einige Theaterfestivals später stehen sie jenseits der "großen Pfütze" wieder auf einer Theaterbühne, um ihren Kampf gegen Gewalt in die Welt zu tragen.

Jede gegen jeden

Gewalt gibt es nämlich überall: Auf einer Hochzeit, bei der der Trauzeuge eine Bedienstete begrabscht. Unter deren Kolleginnen, die finden, sie war bestimmt selber schuld (und sich gegenseitig um den Lohn bescheißen). Im Taxi, das sie nicht nehmen können, weil sie dann vergewaltigt oder wegen ihrer Organe ermordet werden (also nehmen sie den Esel). Und natürlich zwischen Braut und Bräutigam (er hat seine Ex zur Hochzeit eingeladen, sie ihn vor versammelter Gesellschaft geohrfeigt und mit dem Sohn des Trauzeugen getanzt). "Was sich schlägt, das liebt sich"? Die Scheidung fordert man, um einander weh zu tun, nicht, weil es eine echte Option wäre. Der Tochter zuliebe wünscht man sich lieber weiter das Schlimmste an den Hals, als sich zu trennen: Die Familie geht schließlich vor.

Wer sich jetzt ein bedrückendes Familiendrama vorstellt, irrt. Zum Peitschentanz läuft heitere Musik, die Gewaltexzesse arten schnell in Tanzeinlagen aus, bei denen die Cholitas in ihren traditionellen Polleras, die an Brautkleider erinnern, umeinander wirbeln. Oft fliegt Konfetti über die Bühne. Generell funktioniert dieser Abend eher collagenhaft und wirkt dabei ab und an wie eine Sketchparade. So schnell wie die Gewalt kommt, ist sie schon wieder weggewischt, um dem, der sich kurz abgewendet hat, wie ein Bumerang an den Hinterkopf zu krachen: "Déjà-vu".

Ruten sind keine Mathelehrer

Dabei wirken Verdrängung und Heiterkeit keineswegs makaber. Vielmehr wird durch das Kommen und Gehen sichtbar, wie Gewalt entsteht, wie schnell aus Wogen Wellen werden, wie das Leben trotz aller Grausamkeit weitergeht. Statt Kloß im Hals hört man aus dem Publikum immer wieder Gelächter – und ist plötzlich angefasst, wenn eine Tochter die Ruten beschlagnahmt, weil sie die Menschen böse machen (und nicht Mathe und Chemie unterrichten) oder wenn ein Vater seinen Sohn verprügelt, weil der lieber mit Puppen spielt, sich schminkt, Kleider trägt – und dann den Suizid seiner geliebten Tochter beweint, die so nicht mehr weitermachen wollte.

Trotz all der starken Bilder, die mal subtiler, mal expliziter sind, hat dieser Abend nichts Belehrendes. Er zeigt mit viel Spielfreude und vielleicht hin und wieder etwas plakativ die traurige, weil schlichte Wahrheit: Gewalt gebiert Gewalt. Den Ausweg muss am Ende jede*r selbst finden (Brecht wäre begeistert). Las Kory Warmis zeigen das sonst vor einem ländlich geprägten Publikum auf Straßen, Plätzen und vielen anderen Orten, die kein Theater sind. Daher die heftige Würze, die dramatischen Umschläge, die zugespitzte Deutlichkeit, die sich in Tanz, Musik, Konfettiregen entlädt. Die Überraschung: Das funktioniert auch in Heidelberg auf der Bühne. Mag der schlagartige Wechsel von teilweise heftiger Gewalt zu Ausgelassenheit und zurück manchmal befremden, so hat man in vielen Situationen auch in Deutschland einen ziemlich unheimlichen Wiedererkennungseffekt.

Deja vu - El corazón también recuerda
Las Kory Warmis
Europäische Erstaufführung

Regie: Erika Andia, Freddy Chipana / Text: Freddy Chipana / Licht: Sergio López / Ton: Henry Unzueta / Logistik und Koordination: Alexander Gutierrez / Mit: Justo Limachi Machaca, Nina Amaru Armata López, Celina Marfeli Flores Mamani, Gumercinda Mamani Chambi, Brayam Machaca Aranibar, Carmen Patricia Aranibar Álvarez, Maria Luque de Poma, Mabel Elena Villalba Mamani, Martha Alvarez Velez, Lucila Cutipa de Quispe, Juana Mamani Gonza, Mishelle akianne Garcia Alberto, Nilda Vicky Miranda Mendoza, Clara Valentina Muñoz Andia
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten

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