Die Welt aushalten

von Georg Kasch

Heidelberg, 5. Februar 2024. Gibt es so etwas wie Tabus noch, 2024 im so aufgeklärten Westeuropa? Aber hallo! Wenn Georges Bataille in seiner frühen Erzählung "Die Geschichte des Auges" von orgiastisch-sexuellen Ausbrüchen berichtet, bei denen Schweiß, Blut, Urin und Sperma fließen und alle Vernunft der Begierde weicht, dann zieht man auch knapp hundert Jahre nach Erscheinen scharf die Luft ein.

Oder wenn auf der Bühne künstliches Blut und Sperma spritzen und echter Urin fließt (man riecht es bis in die ersten Reihen), wenn sich Menschen Gegenstände in ihre Körperöffnungen einführen oder sich Haken unter die Haut setzen lassen, um an ihnen zur Decke zu schweben, dann ruft das zwar keinen Skandal mehr hervor. Aber man blinzelt doch zwischen Abwehr und Neugier in dem Wissen, dass es sich hier um eine Ausnahmesituation handelt.

Batailles 1928 unter Pseudonym erschienene Erzählung erzählt vom sexuellen Verlangen dreier Jugendlicher, die in Lust, Rausch, Entgrenzung, Tod miteinander vereint sind. Der französische Schriftsteller und Philosoph umkreist die Frage, warum das, was uns die größte Angst einflößt, oft das ist, was uns am stärksten erregt. Er spielt das anhand des Erzählers und seiner Freundin Simone durch, die keine Scham zu kennen scheinen (und wenn, dann nur, weil auch die Scham sie erregt). Erst beziehen sie eine Freundin in ihre Spiele ein und nach deren Tod einen englischen Gönner.

Doch keine Lecture Performance

Janaina Leite greift Bataille eher spielerisch auf. In "Die Geschichte des Auges. Ein Porno-Noir-Märchen" versammelt sie Menschen, die von ihren Bezügen zur Pornografie erzählen. Viele haben Erfahrungen mit Webcam-Portalen gemacht, ein paar Karriere mit großen Studios. Sie alle eint, dass sie kaum als Mitglieder der "guten" Gesellschaft durchgehen würden, mit ihren tätowierten, uneindeutigen, queeren Körpern und ihrer entspannten Haltung zum eigenen Begehren.

Während jede:r aus seinem oder ihrem Leben erzählt und eine Lieblingsstelle der Erzählung vorträgt, umspielen die anderen Batailles Motive. Mal illustrierend, wenn sie auf der Bühne eine Orgie aus Lust und Gewalt entfesseln. Zunehmend assoziativ, wenn eine Performerin mit dem Publikum Wahrheit oder Pflicht spielt und sich eine Zuschauerin auf der Bühne den Hintern versohlen lässt. Überhaupt gewinnt der Abend an Sinnlichkeit: Wenn E-Gitarrenriffs zucken, die Metalltonnen zu Trommeln werden und die Zuschauer:innen mit Papierblättern die flirrende Atmosphäre der Stierarena erschaffen, verliert "História de olha" alles, was zuvor an eine Lecture Perfomance erinnerte.

Verschworene Voyeur*innen

Erst, als sich allmählich die Trennung zwischen Publikum und Bühne auflöst, man in der (durchinszenierten) Pause zum Cachaça-Trinken nach vorne strömt, zum Anfassen, Mitpinkeln, schließlich zum Fisten einer Performerin eingeladen wird, begreift man, dass die Distanz des Beginns auf das Auge des Voyeurs anspielte. Schön, dass man trotz der Nähe, die bald herrscht, nie das Gefühl hat, zu etwas gezwungen zu werden (es gibt genügend Menschen, die Lust haben mitzumachen). Auch zwischen den Performenden geschieht ja alles einvernehmlich, liebevoll.

Schließlich geht es hier nicht darum, welche der Krassheiten man wo schon einmal auf der Bühne erlebt hat (bei Vegard Vinge und Ida Müller, Signa, Florentina Holzinger) oder wo die Wurzeln dieser Art von Theater liegen (beim Teatro Oficina aus São Paulo, bei dessen dionysischen Festen alles passieren kann). Diese Bilder hinterlassen auch nicht den stärksten Eindruck, nicht der Geruch frischen Urins, nicht die Penetrationen.

Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Gemeinschaft, die diese Mischung aus Lust und Ekel zusammen auslotet. Die an Orte geht, die die Gesellschaft als Ganzes an ihre Ränder verdrängt und Platz in ihrer Mitte schafft – für gegenseitige Anerkennung, Zuneigung. So lassen sich auch drei intensive Stunden durchstehen. Am Ende bleibt eine starke Saudade zurück, eine große Sehnsucht. Nicht nach den Krassheiten. Sondern nach dieser Gemeinschaft, die aufscheint wie eine Utopie und von der man denkt: Wenn ich mit ihr all diese Tabus erkunden und aushalten kann, dann vielleicht auch all die anderen Herausforderungen der Welt.

Historia do olho - um conto de fadas Porno-Noir
Janaina Leite

Europäische Erstaufführung

Konzeption, Regie, Dramaturgie und Performance: Janaina Leite / Dramaturgie und Regieassistenz: Lara Duarte und André Medeiros Martins / Performers: André Medeiros Martins, Armr‘Ore Erormray, Carô Calsone, Cusko, Ian Figlioulo, Georgia Vitrilis, Isabel Soares, Lucas Scudellari , Ultra Martini, Vinithekid und Tadzio Veiga / Originalkompositionen und Aufführung: A. M. Martins, U. Martini und Vinithekid / Licht: Wagner Antônio / Kostüme: Melina Schleder / Körperarbeit: L. Duarte / Arrangement und Sounddesign: Renato Navarro / Musikproduktion: Mateus Capelo
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

 

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