Friede den Villen

von Leonard Haverkamp

Heidelberg, 4. Februar 2024. Die Nachbar*innen sind alarmiert: Im sonst so heilen Viertel "Schöne Neue Welt" hat sich etwas Schreckliches ereignet. Ein Mord! An einer Journalistin! Da liegt sie nun: auf der weißen Halfpipebühne, an deren Seiten sich das Publikum gegenübersitzt. Der Tragik der Situation entsprechend, zieren kajalverflossene Tränen das Antlitz der Toten, die nun durch den Saal blickt. Man hat die Nachrichtensprecherin von "Die Guten Nachrichten" wieder in den Stand gehievt, sie bleibt schließlich eine von ihnen. Um sie herum hat sich die Nachbarschaftswache aus Ex-Fußballprofis, Tierschützerinnen, Hausfrauen und Pullunderträgern versammelt. Es geht immerhin um die Sicherheit im Viertel!

Ermittelndes Muttersöhnchen

Zum Auftakt des ¡Adelante!-Festivals, zweiter Teil (nach dem starken Gastspiel aus Portugal), nimmt das Teatro El Almacén aus Uruguay den Sicherheitswahn und die vermeintlichen Probleme einer gutbürgerlichen Gesellschaft aufs Korn. Damit zeichnet es ein selbstironisches Bild eines relativ wohlhabenden Landes, in dem das Thema Sicherheit – vor allem verglichen mit den Nachbarstaaten – eher weniger akut ist.

Bekanntlich ist die Angst vor dem Unbekannten aber am größten. Sicherheitshalber tragen "Die wachsamen Nachbarn" deshalb Zahnschutz zu Sakko und Stirnband. Und weil sich viele lieber selber eine Waffe besorgt haben, ist der Kauf einer 9-Millimeter-Pistole keine heiße Spur. Dass der ermittelnde Detektiv im Dunkeln tappt, liegt aber mehr an dessen ungeklärten Mutterthema, das den größten Teil seiner Aufmerksamkeit einnimmt. Darüber können auch Käppi, Pilotenbrille und eine überzogene Emotionalität nicht hinwegtäuschen.

Die Lösung: Crème brûlée

Unter den Selbstjustiz übenden Nachbar*innen herrscht indes abwechselnd Gemeinschaftsgeist und gegenseitiges Misstrauen – dann werden auch mal die Samuraischwerter gekreuzt. Ohnehin wird schnell aus Kleinigkeiten ein aufbrausendes Drama, gleich, ob es um die Zubereitung eines Apfelstrudels oder den Tod geliebter Hunde in der Kanalisation geht (was natürlich die Schuld der Ratten war, nicht die des Anti-Ratten-Komitees).

Trotz der Angst vor dem anderen, engagiert man sich in der Nachbarschaft. Zu schrecklich sind die Zustände, wo Kinder vor dem Supermarkt fragen, ob man heute ihre Mama sein will (zum Glück lassen sie sich mit einer Crème brûlée besänftigen). Das Klima der Angst scheint dabei jedoch mehr aus der Lust auf ein bekömmliches Abenteuer geboren als aus handfesten Problemen. In der Schönen Neuen Welt pendeln die Sehnsüchte der Bewohner*innen zwischen dem Frieden der eigenen vier Wände und einem Grund, die Augen wieder ganz weit aufzureißen.

Dem Heidelberger Publikum dürften einige Themen vertraut vorkommen. Gemischt mit einer ordentlichen Ladung inbrünstiger Theatralik mag dieser Abend besonders für Telenovela- und Horrorfans durchaus unterhaltend sein. Alle anderen können die übertriebenen Posen und die vielen ironischen Ausrufezeichen aber durchaus ermüden.

GUNS
von Teatro El Almacén
Europäische Erstaufführung
Regie: André Hübener / Text: Leonardo Martínez / Mit: Mariana Escobar, Luche Bolten, Camila Vives, Sofía Espinosa, Bruno Travieso, Martín García, Florencia Colucci, Mariel Lazzo / Regieassistenz: Mariel Lazzo / Musik: Martín Sorriba / Bühne: Camilo Weiberger, Ana Paula Segundo / Kostüme: Ana Paula Segundo, Lucia Bonnefon / Kostümanfertigung: Silvana Sarralde / Lichtdesign: Ana Paula Segundo, André Hübener / Maske: Mariana Escobar, Anna Paula Segundo, Lucía Bonnefon / Mitarbeit Licht und Bühne: Juan Andrés Piazza / Fotos: Mariel Lazzo / Grafikdesign: Gabriel Acosta / Produktion: El Almacén / Ausführende Produzentin: Lucía Etcheverry
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten

 

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