Ändere die Welt
von Georg Kasch
Heidelberg, 7. Februar 2020. Applaus im Theater ist eigentlich der Moment, in dem die Schauspieler*innen loslassen können. Klar, das Adrenalin kickt noch mal so richtig, aber die Anspannung weicht meist Erleichterung, Freude. Erst recht, wenn das Publikum rast und jubelt, aufspringt, mit Tränen in den Augen Richtung Bühne lächelt so wie hier in Heidelberg. Die sechs Mädchen in "Paisajes para no colorear" (Nicht auszumalende Landschaften) auf der Bühne aber nehmen die Ovationen mit ernsten Gesichtern hin. Sie halten sich ein Auge zu, entrollen ein Plakat: "En Chile se violan los derechos humanos" (in Chile werden Menschenrechte verletzt). Und immer, wenn sie wieder auf die Bühne kommen, weil der Applaus nicht verebben will, halten sie die Parole wieder hoch.
Auge um Auge
Sich ein Auge zuzuhalten ist in Chile gerade ein politischer Akt (zu sehen schon neulich zum Festivalauftakt beim Applaus zu "La flauta mágica / Die Zauberflöte"). Denn in Chile herrscht eine politische Krise, gibt es schwere Proteste gegen die soziale Ungleichheit, in deren Verlauf der neoliberale Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand erklärte. Etliche Demonstrant*innen verloren in den Kämpfen mit der Polizei ein Auge.
Um Gewalt geht es auch in "Paisajes para no colorear": 2016 trug das Teatro La Re-Sentida mehr als hundert Aussagen zusammen von chilenischen Mädchen, die Gewalt ausgesetzt waren. Daraus machten Regisseur Marco Layera, der schon mit etlichen Gastspielen in Deutschland für Aufsehen sorgte, sein Team und sechs umwerfende jugendliche Spielerinnen zwischen 13 und 17 Jahren einen Abend, der seitdem um die halbe Welt tourt. Er erzählt von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung, erzwungener Schwangerschaft (weil die von der Militärdiktatur verabschiedete Verfassung von 1980, die immer noch in Kraft ist, Abtreibungen auch bei Vergewaltigung verbietet). Noch mehr aber macht er deutlich, wie eine ganze Gesellschaft junge Frauen unterdrückt, in starre Rollenmodelle presst, Abweichungen sanktioniert.
https://www.adelante-festival.de/de/chile/ueber-chile/gastspiel-paisajes-para-no-colorear/was-unser-kritiker-sagt#sigProId722299bb3a
Ein Bild dafür sind die zwei Puppen auf der Bühne, die Baby- und die Gummipuppe, zwei stereotype Frauenbilder: Hure und Mutter. Sophie, die Gummipuppe, die die Mädchen vermenschlichen, um sie aus der Schmuddelecke zu holen. Und Greta, die lebensechte schreiende Babypuppe, die in der Schule ausgeteilt wird, damit (offenbar nur) die Mädchen sich auf ihre Rolle als Mutter vorbereiten können. Dass sie schwarz ist und ständig schreit, weil ihre Mutter Drogen missbraucht haben soll, ist so offensichtlich rassistisch, dass es einen graust. Wie auch das pinke (!) Spielhaus, das auf der sonst leeren Bühne steht mit seinem ebenso pinken Tisch und den pinken Stühlen. Oder das weiße Kleid mit der glitzernden Tiara, in die Matilde einmal gezwungen wird, obwohl sie sich als genderneutral empfindet.
Fixiert und erstickt
Oft holt der Abend das Publikum ab mit Themen, die Frauen überall betreffen: Mobbing, Sexismus, Moralvorstellungen, die bei Mädchen stets strenger ausfallen als bei Jungs. Immer, wenn die jungen Frauen auf der Bühne so richtig ausgelassen powern, schliddert der Abend mit Sicherheit schon auf eine Situation zu, in der man sich möglichst tief im Sitz vergraben will. Etwa weil alle sechs ungeheuer realistisch das Sterben eines Mädchens nachstellen, das von Mitarbeiter*innen der Jugendbehörde fixiert wurde und dabei erstickte (kein Einzelfall: 1313 Opfer der Behörde waren es innerhalb von zehn Jahren). Sie trippeln als bürgerliche Verteidigerinnen christlicher Werte in Fake-Fellmänteln herum und preisen das Wunder der Geburt – auch der ungewollten. Und ja, die Verhältnisse in Chile sind krasser als bei uns (siehe etwa das Abtreibungsgesetz). Aber auch in Deutschland gibt es Birgit Kelles, Hedwig von Beverfoerdes und Beatrix von Storchs, die gerne die Uhr zurückdrehen und Frauen wieder an den Herd schicken wollen.
Nicht mit uns, rufen diese sechs Mädchen, und man glaubt es ihnen aufs Wort. Weil sie exzellente Schauspielerinnen sind. Aber auch, weil sie jedes Wort so meinen (man schaue nur das Video-Interview, das sie live auf einer Anti-Piñera-Demo gegeben haben). Weil sie so zutiefst humane Ansichten haben. Weil sie wirklich die Welt verändern wollen. Dieser Abend verstört, wühlt auf. Aber er macht auch Mut. Solange es Menschen wie diese gibt, ist Hoffnung.
Paisajes para no colorear (Nicht auszumalende Landschaften)
von Teatro La Re-Sentida
Regie: Marco Layera, Regieassistenz: Carolina de la Maza, Dramaturgie: Carolina de la Maza, Marco Layera, Psychologie: Soledad Gutiérrez, Bühne und Licht: Pablo de la Fuente, Kostüme: Daniel Bagnara, Musik: Tomás González, Ton: Alonso Orrego, Produktion: GAM (Centro Cultural Gabriela Mistral), Koproduktion: Compañía de Teatro La Re-Sentida, Übersetzung Übertitel: Franziska Muche.
Mit: Ignacia Atenas, Paula Castro, Daniela López, Angelina Miglietta, Matilde Morgado, Constanza Poloni, Rafaela Ramírez, Arwen Vásquez.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause