Parabeln in Styropor

von Georg Kasch

Heidelberg, 12. Februar 2017. Wenn Kinder mit Bauklötzen spielen, dann funktioniert das nach dem Prinzip aufbauen, einreißen, was Neues aufbauen. So ungefähr passiert das auch mit den großen Styroporquadern, die anfangs in "A tragédia latino-americana" eine Mauer bilden: Mal wirken sie wie Caspar David Friedrichs Eismeer, dann bilden sie eine plane Fläche, aus der immer mehr Blöcke herausgepickt werden. Am Ende stapeln die Schauspieler*innen sie wieder zu einer Mauer, die unerklimmbar erscheint. Dann aber stürzt sie erneut in sich zusammen.

Steht am Ende immer das Chaos – oder der Neuanfang? Kommt ganz auf die Persepktive an. Regisseur Filipe Hirsch und Dramaturg Ruy Filho scheinen nicht besonders optimistisch zu sein, was die Menschheit im Allgemeinen und die lateinamerikanischen Kulturen im Besonderen anbelangt. Sie haben Texte von 24 lateinamerikanischen Autoren zu einer literarischen Nummernrevue montiert. In der Eröffnungsnummer begrüßen die elf Schauspieler*innen historische und aktuelle Persönlichkeiten, die alle Dreck am Stecken haben. Zum Beispiel den Bauunternehmer Odebrecht, ohne den in Lateinamerika nichts mehr geht, der aber in einen riesigen Korruptionsskandal verwickelt ist. Oder Samarco, jener Minenbetreiber, dessen geborstenes Klärbecken vor einem guten Jahr den Rio Doce verseuchte – auf unabsehbare Zeit.

Die ewige Suche nach Identität

Schon ist der Grundton angeschlagen für diese lateinamerikanische Tragödie: Gier, Korruption, die Macho-Kultur (auf die die meisten Texte allerdings selbst reinfallen), der Kontrast zwischen Arm und Reich, das schwierige Verhältnis zu den einstigen Mutterkulturen und Kolonialmächten Spanien und Portugal, die ewige Suche nach einer Identität. Man versteht, warum das Festival diese Produktion an ihren Beginn gestellt hat.

Allerdings ist der Abend eine Herausforderung. Gar nicht so wegen der gut dreieinhalb Stunden Dauer. Sondern weil neben all dem schweißtreibenden Schichten, Umtragen und Durcheinanderwirbeln der Styroporquader wenig passiert außer frontales Sprechen Richtung Parkett oder das Simulieren eines Dialogs. "Die lateinamerikanische Tragödie" ist eine Sprechoper, in der Gesten und Aktionen lediglich Symbolcharakter haben.

Modern-Jazz-Delirium

Bewegung gibt es vor allem in der Musik. Mitreißend lotet die vierköpfige Band – Klavier, E-Gitarre, Fagott und Schlagwerk – kammermusikalische Intimität aus, tupft intime Stimmungen hin, treibt den Abend ins Modern-Jazz-Delirium. Die Musik ist auch die einzige Instanz, die die Texte auf der Bühne – poetische, alltägliche oder phantastisch überhöhte Parabeln von Ausbeutung, Sex, Gewalt, Religion, Armut und Hoffnungslosigkeit – kommentiert, sie mit Pathos auflädt, ihnen widerspricht.

Einmal fällt die Übertitelung aus, man kann also gar nicht anders, als sich ganz aufs Bühnengeschehen zu konzentrieren. Man hört einen Mann und eine Frau diskutieren, er fummelt an einem weißen Quader rum, sie bemüht sich, nicht auf die inzwischen verstreuten Tennisbälle zu treten. Zum Glück ist der Beamer bald wieder in Ordnung. Der Rest ist Reden.

A Tragédia latino-americana
(Die lateinamerikanische Tragödie)
Ultralíricos
Text: André Sant.Anna, Augusto de Campos, Dôra Limeira, Gerardo Arana, Glauco Mattoso, Guillermo Cabrera Infante, J. R. Wilcock, Leo Maslíah, Lima Barreto, Marcelo Quintanilha, Paulo Leminski, Reinaldo Moraes, Roberto Bolaño, Salvador Benesdra, Samuel Rawet.
Regie: Felipe Hirsch, Choreografie: Renata Melo, Dramaturgie: Ruy Filho, Produktionsleitung: Luís Henrique (Luque) Daltrozo, Internationale Produktion: Ricardo Frayha, Bühne: Daniela Thomas, Felipe Tassara, Technik: Bruno Girello Bühnentechnik: Nietzsche, Licht: Beto Bruel, Kostüme: Veronica Julian, Ton: Gustavo Breier, Musik: Arthur de Faria, Band: Arthur de Faria, Adolfo Almeida Jr., Mariá Portugal, Pedro Sodré.
Mit: Caco Ciocler, Camila Mardila, Georgette Fadel, Guilherme Weber, Inês Efron, Javier Drolas, Julia Lemmertz, Magali Biff, Nataly Rocha, Pedro Wagner, Rodrigo Bolzan.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

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